Der Durchbruch des digitalen Handel s mit Fast Moving Consumer Goods (FMCGs) wurde schon lange angekündigt. Passiert ist bisher aber wenig; nur kleine Anbieter verkaufen ausgewählte Sortimente über das Netz; langsam startet auch Amazon fresh durch. Wie sich dieser Markt weiter entwickelt, besprechen wir mit einem stationären Händler und einem Anbieter, der mit einer direkten Konkurrenz zu Amazon den Markt erobern will.
Warum verzögert sich der digitale Handel mit Lebensmitteln so stark?
Dieter Hieber: Der digitale Handel mit Lebensmitteln gerade in Deutschland ist durch einen intensiven und extremen Preiskampf gekennzeichnet. Daher sind die Margen niedrig, was einen kostendeckenden Online-Handel Schwierigkeiten bereitet. Viele Entscheider haben aber auch in den letzten Jahren den Kopf in den Sand gesteckt und darauf gehofft, dass dieser Sturm an ihnen vorbei ziehen wird. Diese Hoffnung wird sich aus meiner Sicht nicht erfüllen. Andere Branche, man denke an den Handel mit elektronischen Produkten, haben genauso agiert und sind bitter enttäuscht worden. Fairerweise muss man auch sagen, dass der Handel gerade mit frischen und auch tiefgekühlten Produkten logistisch eine Herausforderung ist.
Oliver Janßen: Der Handel hat feste Strukturen, wie er Lebensmittel verkauft. Nun sehen wir neue Möglichkeiten, die aber eine ganze andere Herangehensweise erfordern, wie bspw. Hersteller und Konsumenten näher zusammenzubringen. Bekanntlich nennt man so etwas Disruption. Viele Händler weigern sich den Handel mit Lebensmittel neu zu denken. Sie wollen viel lieber, ihre gelernten Modelle auf die neuen Herausforderungen übertragen. Eine solche Denke ist menschlich, hat aber bisher nie funktioniert. Einfach eine Internetfiliale ins Web zu stellen, wird erfolglos sein.
Was heißt das genau?
Janßen: Große Player wie die REWE haben sich anfangs dezentral organisiert, so dass zum Beispiel in den einzelnen Märkten die Produkte kommissioniert wurden. Diese Lösung ist viel zu teuer; bei den Konsumenten gab es dafür keine Preisbereitschaft. Diese finden Sie auch nicht, wenn man nur einen Katalog mit Lebensmitteln online stellt. Konsumenten erwarten nutzenorientierte Lösungen. Dies gilt auch für das Sortiment: Wenn dies viel kleiner ist als beim stationären Handel, sorgt auch dies für Akzeptanzprobleme.
Wenn Sie eben schon gesagt haben, dass auch der Einzelhandel mit Lebensmittel online stattfinden wird, wie werden Sie es angehen, Herr Hieber?
Hieber: Wir haben viel von Leclerc in Frankreich gelernt; hier hat man uns tiefe Einblicke gewährt. Als Händler haben wir ein breites und tiefes Sortiment. In Bad Krozingen führen wir 45.000 Produkte. Da wir gar nicht wissen, was die Kunden genau wünschen, müssen wir unseren E-Commerce offen gestalten. Daher führen wir die Kommissionierung erst einmal selbst durch. Wir beobachten, was funktioniert und welches die Schnelldreher sind. Wissen wir dies, haben wir eine Lagerfläche, wo wir genau diese Artikel zusammen stellen können. In dieser ersten Phase wollen wir Erfahrungen sammeln und den Kunden einen Service bieten. Hier schon Gewinne realisieren zu wollen, sehe ich überhaupt nicht. Wir werden auch nicht mit einem Heimlieferdienst starten, sondern eine Drive-Inn-Lösung anbieten. Neben der einfacheren Logistik hat diese Lösung den Vorteil, dass viele Kunden beim Abholen der vorbestellten Ware in den Markt gehen. In Frankreich sind dies ungefähr 80 Prozent.
Was ist denn der Vorteil des stationären Handels gegenüber dem digitalen Handel?
Hieber: Der Name Hieber ist bei unseren Kunden eine starke Marke, der sie vertrauen. Dies ist ein Vorteil, da wir unser bekanntes Image auf den E-Commerce-Kanal transferieren können. Außerdem können bei uns die Kunden auch in den Laden kommen und dort die Produkte anfassen, sehen und manchmal auch schmecken. Hier punkten wir sicherlich gegenüber den Online-Anbietern.
Janßen: Was die Sensorik angeht, können wir natürlich mit dem stationären Handel noch nicht ganz mithalten. Was aber die Warenpräsentation betrifft, sehen wir dies anders. Amazon will zum Beispiel 80.000 Produkte anbieten, und wir denken in ähnlichen Dimensionen. Aber die Kunst dabei besteht bekanntlich darin, einem Kunden eben nicht alle Produkte zu zeigen, sondern nur die für ihn relevanten. Hier kann natürlich Technologie massiv unterstützen und auch einen Vorteil gegenüber dem stationären Handel erreichen. Spannend wird es, wenn ein Kunde auch solche Produkte zu sehen bekommt, mit denen er nicht gerechnet hat, über die er sich aber freut. Die heutigen Prozesse erlauben dies nur eingeschränkt. Der Ansatz ‚Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch’ ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Man kommt zu besseren Vorschlägen, wenn man nicht nur auf das bisherige Verhalten abstellt, sondern auch psychografische Ansätze berücksichtigt. Nur die Kaufhistorie und digitale Nutzerdaten einzusetzen, ist sicherlich zu wenig für inspirierende Vorschläge.
Warum ist es sinnvoll neben dem stationären Handel einen digitalen Handel zu haben?
Hieber: Die nachrückenden Generationen wollen selbstbestimmter mit ihrer Zeit umgehen und diese sinnvoll füllen. Dazu passt es eben nur noch bedingt, seine Lebensmittel in einem Markt kaufen zu müssen. Einige gehen gerne dahin und lassen sich an der Fleischtheke beraten; andere suchen nach Alternativen. Genau denen muss man solche Optionen aufzeigen. Vor diesem Hintergrund ist es naiv, alles so weiter laufen zu lassen und den Kopf in den Sand zu stecken. Ganz viele Händler agieren bis heute genau so. Packt man es aber an, so braucht es intelligente Lösungen. Kollegen haben viel Geld verbrannt, weil sie die Agentur, die ihnen die Webseite erstellt hat, beauftragt haben, ihnen einen Online-Shop zu bauen. In einen solchen Shop 5000 Produkte zu stellen und sich dann zu wundern, dass es nicht funktioniert, ist realitätsfern. Solche Erfahrungen erhöhen natürlich nicht die Akzeptanz. Händler ängstigt dies, auch Geld zu verlieren.
Was sind die Konsequenzen?
Hieber: Wenn ich diese für mich neue Welt erobern will, kann ich dies ohne Partner nicht lösen. Lieschen Müller damit zu beauftragen, ist nicht zielführend. Neben dem reinen Online-Shop muss ich diesen auch marketingtechnisch voran treiben. Auch dafür braucht man Fachleute. Diese Denke ist noch nicht bei allen Händlern angekommen, obwohl diese Kollegen auf der anderen Seite selbstverständlich mit Dienstleister wie Banken und dergleichen zusammen arbeiten.
Wenn man als Marktforscher über das Netz FMCGs verkaufen will, hat man die gleiche Herausforderung, oder?
Janßen: Das ist ganz eindeutig so. Genau deswegen muss man seine Kernkompetenz definiert haben und sich für alle anderen Bereiche, die man eben selber nicht optimal abdecken kann, die besten Partner suchen und finden. Gerade beim Online-Shopping sollten wir aber auch noch über das Thema Daten sprechen. In der Vergangenheit, und in vielen Bereichen gilt dies auch jetzt noch, herrscht hier eine fast schon maximale Intransparenz. Genau deswegen sind aber die Konsumenten stark verunsichert und auch genervt. Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass Retargeting massiv belästigend ist. Außerdem wissen wir zwar viel über Kunden, aber der Rateanteil ist auch hoch. Um hier transparenter zu sein, bewegt sich die Branche gerade. Auch für uns ist dies wichtig, weshalb wir ein Dashboard anbieten werden, wo der Konsument sehen kann, was wir über ihn zu wissen glauben.
Wenn wir darüber einen Konsens gefunden haben, dass der erlebnisorientierte Handel eher weniger unter dem E-Commerce leiden wird, wie sieht es denn dann mit Discountern und den kleineren Supermärkten aus?
Janßen: Schaut man sich die Discounter an, so versuchen diese gerade ihre Frische- und Qualitätskompetenz darzustellen und verändern sich. Dies mag auch richtig sein, da sie gerade sie unter dem aufkommenden E-Commerce am meisten leiden werden. Ein Markt, der eher weniger sensorische und haptische Impulse liefert, ist natürlich am besten gegen einen Online-Anbieter austauschbar.
Hieber: Ich sehe diese Entwicklung auch so. Die Discounter rücken jetzt schon näher an die klassischen Vollsortimenter. Für uns heißt dies aber auch, dass wir mehr und mehr zu Gastronomen, Eventveranstaltern usw. werden. Wir sehen dies aber entspannt. Handel war schon immer Wandel. Ein Beispiel: Als meine Eltern einen Markt mit 400 Quadratmetern Verkaufsfläche eröffnet haben, war dies der erste Markt in der Region EDEKA Südwest mit dieser Größe; das war revolutionär. Heute ist das ein kleiner Tante-Emma-Laden. Außerdem wollen Menschen nicht nur digital miteinander in Kontakt bleiben. Einige Tendenzen zeigen dies. Ein Markt ist aber per se ein Ort der Begegnung. Nicht die großen fressen die kleinen; die schnellen fressen die langsamen. Und noch eine wahre Phrase: Die, die nicht mit der Zeit gehen, gehen mit der Zeit.
Hat Amazon fresh Ihnen geholfen oder geschadet, was den digitalen Handel angeht?
Hieber: Was den Absatz angeht, sehe ich hier keine Veränderung. Viele Leute sind aber wegen Amazon aufgewacht und haben gemerkt, dass sie beim Onlinehandel mit FMCGs aktiv werden müssen.
Janßen: Um es mit Google zu sagen: Alles was gut für das Internet ist, ist auch gut für Google. Das vergleichbare gilt auch für den Online-Handel mit Lebensmitteln. Amazon ist also hilfreich. Dies gilt auch deswegen, weil man von Amazon lernen kann, nämlich: wie es besser gehen muss. Dazu nenne ich gerne ein Beispiel: Die Amazon-Seite ist nicht darauf optimiert, den Wocheneinkauf zu unterstützen. 50 Artikel bei Amazon einzukaufen, ist kein Spaß. Die spannende Frage ist nun, ob Amazon für eine neue Kategorie seinen ganzen Shop umbaut. Man muss aber auch wissen, dass Verbraucher lange gelernt haben, wie sie Lebensmittel einkaufen. Dies zu ändern, ist nicht kurzfristig möglich. Erfolg braucht einen langen Atem. Den besten Weg, um Kaufbarrieren niedrig zu halten, kennt keiner – außer, genau auf die Bedürfnisse der Kunden zu schauen. Für die einen ist es der virtuelle Supermarkt, die anderen präferieren es, Produkt zu scannen. Wieder andere sind der Meinung, dass man seinen Einkaufszettel aufschreibt oder spricht und dies dann digital übernommen wird. Welche Lösung sich durchsetzt, hängt auch von der nächsten Stufe der Kommunikations- und Medientechnologie ab.
Hieber: Lebensmittel zu bestellen, muss in Zukunft so einfach funktionieren, wie heute eine Pizza zu ordern. Zeitfenster vorzugeben, verkompliziert den Prozess. Außerdem muss man den Verpackungsmüll reduzieren, der heute hier hoch ist.
Dieser Beitrag ist auch bei LEAD digital erschienen.This content is only available in German.