Durch die digitale Transformation verändert sich auch das Marketing; es wird technischer und rückt damit näher an die IT. Was heißt das genau? Was bedeutet es für die IT-Abteilung? Dazu haben wir einen Marketing- und einen IT-Entscheider an einem Tisch zusammen gebracht.
Wie hat sich die Zusammenarbeit zwischen Marketing und IT in den letzten Jahren verändert?
Jürgen Herrmann: Als ich bei Ritter Sport anfing, rief man die IT-Kollegen, wenn es Probleme mit dem Computer gab. Dann kam jemand aus dem Keller, hat mir Inhalte erklärt, die ich nicht wissen wollte und ist wieder gegangen. Für eine gute Zusammenarbeit war die volle Funktionsfähigkeit des Rechners wichtig. Heute ist aufgrund der Digitalisierung und der damit einhergehenden höheren Geschwindigkeit eine echte Partnerschaft zwischen Marketing und IT entstanden. Beispielhaft dafür sind die Datenströmen über das Verhalten der Kunden. Um diese zu generieren und daraus relevantes Wissen abzuleiten, ist die IT heute unverzichtbar. Ein weiteres Beispiel sind die Medien: Auch wenn das TV immer noch reichweitenstark ist, ist der Shift in den digitalen Bereich unverkennbar. Um hier erfolgreich zu sein, sind die IT-Kollegen aber zwingend erforderlich. Nutzt man diese Spezialisten nicht, geht man im Ozean der digitalen Möglichkeiten unter. Dabei ist internes Know-how unverzichtbar, gerade wenn man mit externen Partnern und den großen Online-Playern arbeitet. Nur so kann man deren Daten und Empfehlungen überprüfen.
OTTO hat sich von einem Katalogversender zu einem Onlinehändler entwickelt. Welche Rolle hat dabei die IT gespielt?
Dr. Michael Müller-Wunsch: Vor zwei Jahren haben wir 20 Jahre otto.de gefeiert. Vor mehr als zwei Jahrzehnten haben wir also damit begonnen, eine Papier- durch eine Internetseite zu ersetzen. Heute sind wir IT-Kollegen Enabler und Partner des Marketings. Auch meine Position als Bereichsvorstand zeigt diese Gleichberechtigung neben Marketing, Vertrieb und Category-Management. Wir beherrschen die Datenmengen, filtern daraus die relevanten Informationen und machen diese sowie die technologischen Möglichkeiten für die Kollegen nutzbar. Diese Entwicklung ist natürlich ein Prozess. Als ich hier als CIO begann, gab es noch vereinzelt die Wahrnehmung der IT als Dienstleister. Dass dies heute anders ist, liegt auch an den Ertragspotenzialen der IT. Das Front-End ist das beste Beispiel hierfür. Hier arbeitet die IT auf Augenhöhe mit Marketing und Vertrieb.
Herrmann: Ich sehe diese Partnerschaftlichkeit genauso. Bei uns gibt es zwei Innovationsbereiche. Der eine ist klassisch über den Markt bzw. den Konsumenten getrieben. Der andere kommt stärker aus den internen Kompetenzen. Auch in den Ideen aus der F&E aber auch aus der IT liegt ein hohes Potenzial. Will man heute erfolgreich sein, muss man alle Bereiche, dazu gehört auch die IT, verzahnen.
In der Welt da draußen begegnen mir nicht wenige Marketingverantwortliche, die sich immer noch höchst ungern mit IT beschäftigen. Auch die Mitarbeiter der IT-Abteilung tun sich nicht immer leicht mit der kreativen Welt der Marketer. Wie erreicht man die notwendige Annäherung?
Müller-Wünsch: Als international agierendes Unternehmen haben Sie ganz selbstverständlich die Fähigkeit entwickelt, Englisch zu sprechen. Ganz ähnlich verhält es sich im digitalen Geschäftsmodell: Der Wandel führt dazu, dass sich Marketingexperten immer intensiver mit Technologie beschäftigen und dabei on-the-job neue Kompetenzen aufbauen, die wir fördern. Ein gallisches Dorf aufzubauen, das dem widersteht, ist zum Scheitern verurteilt. Viel besser ist es, Silos aufzubrechen und übergreifend zu arbeiten. Dies gilt übrigens nicht nur spezifisch für IT und Marketing bzw. Analytiker und Kreative. Diese Spannungsfelder findet man zwischen allen Abteilungen. Ich glaube, wir haben diesen Shift vom Papier zur digitalen Welt gemeistert, weil wir miteinander reden und weil für uns solche Aufgaben eine gemeinsame Herausforderung sind. Der Programmierer sitzt eben nicht isoliert im Keller und der Marketingmensch schaut auch nicht allein nach den Konsumenten. Nur wenn sich die unterschiedlichen Mitarbeiter austauschen und ein gemeinsames Ziel haben, bestehen Sie heute.
Herrmann: Natürlich hat diese Art der Zusammenarbeit ihre Herausforderungen. Die fangen bei der Sprache an, wo der IT- dem Marketingkollegen nicht die Feinheiten seiner Programmiersprache erklären sollte. Umgekehrt interessieren den ITler die Kennzahlen aus dem Marketing nicht wirklich. Die Sprache muss also für alle nützlich sein. Gleiches gilt für die Eitelkeiten: Der ITler darf nicht der bessere Marketingspezialist sein; umgekehrt gilt dies natürlich auch. Die Unternehmensführung muss genau diese Leitplanken schaffen und durchsetzen. Hier können auch spezielle Situationen helfen, eine Verbindung herzustellen. Als bei uns Marketing und IT gemeinsam die Herausforderungen der Einhorn-Schokolade gemeisterten, lagen sie sich hinterher in den Armen.
Müller-Wünsch: Ausnahmesituationen können tatsächlich helfen, scheinbare Gräben zu überwinden. Mitarbeiter werden abteilungsübergreifend zu Teamplayern, die gemeinsam erfolgreich sein wollen und die nachher einen übergeordneten, hoffentlich positiv besetzten Erfahrungspunkt nutzen. Auch die Konfrontation mit dem Wettbewerb kann nützlich sein. Umdenken müssen vor allem die Mitarbeiter, die durch Wegducken ihr restliches Arbeitsleben überstehen wollen. Bei der noch steigenden Dynamik und Volatilität ist dies chancenlos. Man muss sich der Herausforderung der Transformation stellen. Dabei kann jeder etwas zur Party mitbringen. Es gibt viele Mutige, die vorangehen, einige können wir ermuntern und unterstützen. Aber ein paar werden auf diesem Weg zu neuen Ufern der digitalen Welt auch nasse Füße bekommen. Das müssen wir aushalten. Zu verharren und auf ein gutes Ende zu hoffen, führt ins Abseits.
Herrmann: Bei aller Notwendigkeit der Transformation, darf man nicht im Ozean der digitalen Möglichkeiten untergehen; die Spielwiese ist hier eben immens groß. Genau davor haben viele abwartende Kollegen Angst.
Müller-Wünsch: In der Tat bewegen wir uns auf einem Ozean der Möglichkeiten. Hier muss man sich vortasten und den Zögerlichen Mut zusprechen. Auch die Planungszyklen haben sich verkürzt. Der Club of Rome konnte noch über die nächsten 16 Jahre nachdenken. Heute freuen wir uns, wenn wir das nächste Quartal überblicken. Der Tsunami, der als disruptives Ereignis die gesamte Energiebranche durchgeschüttelt hat, ist nur ein Beispiel, wo die Langzeitplanung von Ingenieuren und anderen Fachleuten plötzlich keine Gültigkeit mehr hatte. Eins ist auch klar: Die eine, alleingültige Antwort gibt es für solche Disruptionen nicht.
Die Anzahl der Touchpoints gerade im digitalen Bereich ist massiv gestiegen und dies weiter gehen. Wie wählt man nun die richtigen Touchpoints aus, wenn man mit einem begrenzten Budget nicht mehr alle bespielen kann?
Herrmann: Die Antworten auf zwei Fragen können hier helfen: Wo erreiche ich überhaupt noch den Verbraucher bzw. wo kann ich den Markt durchdringen und was passt zur Marke? Nimmt man heute 15 Millionen Euro Bruttospendings für TV-Werbung in die Hand, erreicht man einen Werbeanteil in Deutschland von 0,3 Prozent; dies unterstellt eine vollständige Aufmerksamkeit des Verbrauchers während der TV-Werbung. Eine solche Informationsflut ist eine große Schwierigkeit beim Markenaufbau. Genau deswegen haben wir für den Bahnhof als eine wichtige Basis für die Kommunikation von Ritter Sport entschieden. Natürlich erreichen wir nur die Verbraucher, die sich in den großen Bahnhöfen bewegen; die kommen aber an uns nicht vorbei. Wählt man nicht das richtige Medium, schüttet man gleichsam zwei Eimer Wasser ins Meer. Nichts passiert.
Müller-Wünsch: Schon in ganz naher Zukunft wird noch eine weitere Touchpoint-Kategorie hinzukommen, nämlich die der Sprache bzw. der Sprachdialoge. Wie stellt sich also eine Marke über die Sprach-Assistenz-Systeme wie Alexa oder Siri dar? Hier können Linguisten und andere helfen.
Braucht es nicht Mut, einige Touchpoints versuchsweise auszuprobieren? Ein solches Vorgehen entspricht aber nicht den Unternehmenskulturen, die auf Sicherheit setzen.
Müller-Wünsch: Gerade im Zusammenspiel mit dem Marketing haben wir den Mut entwickelt, MVPs zu nutzen. Diese Minimum Viable Products sind Dummies oder Prototypen, die einen frühen Markttest ermöglichen. Natürlich haben auch solche das Licht des Internets erblickt, die nicht erfolgreich waren. Dieser Mut zu Fehlern ist bei uns hart erarbeitet. Ein solches Verhalten überrascht in einem traditionellen Unternehmen. Weil es nur noch eine geringe Planbarkeit gibt, muss man aber ausprobieren. Das Ergebnis ist im Extremfall entweder ein Erfolg oder ein Shitstorm.
Herrmann: Dieser Mut ist sicherlich heute notwendig. Daraus folgt aber auch, dass es heute nicht mehr den einen Weg und die eine Methode gibt. Die Herausforderung besteht doch darin, dass jede Organisation und auch jeder Mitarbeiter sich in einer anderen Situation befindet. Deswegen muss man eben ganz viele Methoden im Koffer haben, um die jeweils richtige zu nutzen.
Müller-Wünsch: Die Differenziertheit im Methodenraum und in den Fähigkeiten von Menschen muss richtig angewendet werden. Das heißt: Im Marketing sind Versuchsballons richtig, in der Buchhaltung weniger.
Wie geht man denn heute mit der höheren Komplexität und dem gestiegenen Workload um?
Herrmann: Wichtig sind Leitplanken und Vertrauen. Wenn ich nach Mallorca fliege, vertraue ich dem Piloten. Ähnlich verhält es sich bei meinen Mitarbeitern. Die rufen erst nach Hilfe, wenn diese Leitplanken durchbrochen werden. Außerdem benötigt man heute Zeit, um für sich die nächsten Schritte zu durchdenken. Ich nenne das, Termine mit mir selbst zu vereinbaren.
Müller-Wünsch: Für mich ist der Mittwochvormittag grundsätzlich meetingfrei. Das gibt mir Raum, um mit den Mitarbeitern den Dialog zu suchen. Diese Zeit ist wichtig, um für sich und mit seinem Umfeld zu reflektieren. Das höchste Gut besteht doch heute darin, einen Gedanken mal unterbrechungsfrei entwickeln zu können.
Dieser Beitrag ist auch bei LEAD digital erschienen.This conent is only available in German.